31.12.2019 kurz nach 08:00 morgens. Über die Nordkette streicht das erste Gelb der Sonne und die beschneiten Spitzen kontrastieren mit dem babyblauen Himmel.
Der letzte Tag in diesem Jahr und ich bin merkwürdig entspannt. Ich schwinge zu Ana Tijouxs 1977 und sehe dem Espresso zu, wie er in die Biletti strömt.
Die vergangenen Tage liegen mir schwer in den Knochen. Drei Nachtdienste in kurzen Abständen und dazwischen nicht viel Verschnaufpause, um sich von den Nächten zu erholen, die mich ein aufs andere Mal durch den Fleischwolf drehen. So bin ich heute aus einem zwölfstündigen Tiefschlaf erwacht, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel geschlafen habe.
Schlaf. Das Projekt 2019. Wenn Erholung zu Arbeit wird und das Bett Erfolgsansprüche an einen stellt, dass man lieber auf die Couch schlafen geht. Die Couch macht einem kein schlechtes Gewissen, eine rosa Wolke, die wohlwollend meine rastlosen Gliedmaßen aufnimmt und mich durch die Nacht wälzen lässt.
Sehnsüchtig sah ich auf den kleinen Stapel Bücher am Bett, die so gerne gelesen werden wollten. Aber das ist die Gemeinheit mit Schlaf. Wach genug zum Lesen und die Nacht so endlos, dass wie Scheherazade 1001 Geschichten erzählt gehörten.

Bücher. Es war trotz der oft ergebnislosen Jagd nach Ermattung, eine mitreißende Flucht und Reise in Bücher. Ich verschlang alles, was gebunden, geklebt, sich zwischen Buchrücken verbarg. Es waren wundervolle sowie fragwürdige Erfahrungen dabei.
Ich verliebte mich in die überquellende Sprache von Zadie Smith in “On Beauty” und lernte über Asperger Syndrom mit Cynthia Kims “Nerdy, Shy and Socially Inappropriate”. In den Wäldern des ecuadorianischen Nebels lebte ich bei Louises Oma Selma, die in “Was man von hier aus sehen kann” (Mariana Leky), Okapis sah. Ich legte erschöpft ob der nicht fassbaren Absurdität “Die satanischen Verse” wieder auf die Seite, aber tauchte in die 2000 Seiten der Zauberrei von “Jonathan Strange and Mr Norrell” (Susanna Clarke) ein. Am feuchten Boden des Hofgartens unter einer Buche las ich ohne aufzublicken Hackls “Am Seil“. Wer Hackl und seine ungewöhnliche schnörkelfreie Sprache nicht kennt, mit der er wahre Begebenheiten in einen bewegenden Moment verarbeitet, muss das nachholen.
Ich ließ mich von der Rezeption zu Leila Slimanis “All das zu verlieren” irre führen. Eine junge unglückliche dürre Frau auf der Suche nach Sex, das ihr ausgehöhltes Inneres füllt. Um über Sex zu schreiben, gehört auch im 21. Jhd noch Mut. Nicht der Mut, das Wort S-E-X auszubuchstabieren oder gar “vögeln”. Sondern der Mut einer Frau ihre Sexualität zuzugestehen und dass diese mit tiefen stummen Wünschen und Fantasien einhergeht. Um darüberzustreifen, dass die Protagonistin es grob mag, reicht nicht, dafür über ihre Diät zu laborieren ist völlig uninteressant.
Was wäre ein Lese- Jahr ohne Martin Suter? “Die dunkle Seite des Mondes” entführt in die Welt von magischen Pilzen und die Zersetzung einer Existenz.
Ich war dieses Jahr in Dachau. Ob ich meine wenigen freien Wochenenden nicht anders verbringen könnte, fragte man mich. Vielleicht bin ich komisch. Nein, bestimmt sogar. Ich geh nicht gerne in Spas, Wellness-Hotels sind mir ein Rätsel. Ich brauche, um ein Buch in die Hand zu nehmen und das Smartphone aus der Hand zu legen, keine Ruhezone. Ich suche immer nach Reibung. Ich bewege mich durch die Gegenwart stets mit einem Blick in die Vergangenheit. Die Retrospektive gibt der Gegenwart ihre Bedeutung.
Die Gegenwart von Primo Levi, “Das Periodische System“, das so voller Grauen ist, aber aus der wissenschaftlich chemischen Perspektive erzählt sortierbar wird, oder nur abstrahierbar?
Whether I want kids is a secret I keep from myself- it is the greatest secret I keep from myself
Sortieren. Das versucht Sheila Heti in “Motherhood” und Kate Bolick in “Spinster”. Ich werfe mit ihr drei Münzen, um Antworten auf Fragen zu finden, die einem das Leben stellt. Sie konfrontiert sich über mehrere Jahre mit der Frage der Mutterschaft. Wann weiß ich, ob ich Kinder will? Und wenn ich keine will, muss ich dafür etwas anderes haben oder sein? Ist die Rolle der Frau jedenfalls die der Mutter oder der super erfolgreichen Karrierefrau? Ist es nicht erlaubt, weder das eine noch das andere zu sein? Was ist Frau ohne Kind und ohne nobelpreis-trächtige Ambitionen? Eine biologische Verschwendung? Wird es ein ewiges Entschuldigen und Wiedergutmachen oder gar Ablenken sein, einer maternalen/matrilinearen Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein?

On the one hand, the joy of children. On the other hand, the misery of them. On the one hand, the freedom of not having children. On the other hand, the loss of never having had them—but what is there to lose? The love, the child, and all those motherly feelings that the mothers speak about in such an enticing way, as though a child is something to have, not something to do. The doing is what seems hard. The having seems marvellous.
Auf all die Fragen des Nicht-Seins… 2020
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