Entfaltet, Gelebtes

Die zeitlose Orchidee

Ich könnte mich daran gewöhnen an moosbewachsenen Mauern entlang zu gehen, an denen die üppigen sattgrünen Frühlings-Äste der Bäume streifen und eine Haarpracht bilden, die von den Laternen beschienen den Eindruck bekommen, der Mond schenke ihne seine volle Aufmerksamkeit. Der Park steht in der Dämmerung ganz in sich versunken, man hört ein Zirpen, ein Zwitschern, verhaltene Gespräche des Windes in den Blättern.

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irgendwo in Barcelona 2018

Die Mauern könnten noch höher, dicker und finsterer sein, mich aufnehmen, mich einhüllen, mich verbergen. Ich würde hinter dem Dickicht der Äste dahingleiten ganz unbemerkt den Zwiegesprächen der Natur lauschend. Sie hören sich besänftigender an als die Zwiegespräche, die in mir stattfinden. Gespräche in deren Mitte ich stehe und mich um mich selbst drehe wie ein Kreisel in Unwucht. Selbstreflexion sei so heilsam, sagt man. Selbstreflexion (und Reflexion gelingt doch nur in der Begegnung mit anderen, nicht wahr?) bewahre einen vor Selbstbetrug, rät man. Ich fühle mich gerade wie vor einer kurz bevorstehenden Dissoziation (weiter lesen: Zerrissenheit) meiner Selbst vor lauter Reflexion. Ich reflektiere so viel, dass es mich förmlich blendet. Ich behaupte von mir, in Balance zu sein mit mir selbst. In völliger Dysbalance zwar mit der Welt, aber in mir ruht die Wasserwaage im Gleichgewicht.

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Hofgarten bei Dämmerung

Während der Garten sich seinem Ende nähert und sachte in den urbanen Fluss der Stadt übergeht; wie kleine Tentakeln verirrt sich das Grün im Asphalt, Menschen an Eis schleckend marschieren an mir vorbei; sehe ich meine Reflexion in den dunklen Schaufenstern. Wie laufe ich wohl, wie empfinden andere meinen Gang? Wie den Schritt jemandes, der auf der Flucht ist, mit gedrückten Schultern und einem nach vorne gebeugter Haltung und weiten hastigen Schritten? Oder wie im Kampf gegen Gegenwind, die Füße fest in den Boden stoßend und die Arme vom Körper gerichtet, um mich an etwas Unsichtbarem festzuhalten? Oder lauf ich doch wie jemand, der eigentlich unsichtbar ist, sich seiner eigenen physischen Grenzen gar nicht bewusst, ständig gegen dieses oder jenen stolpernd?

IMG_20180428_134938_686Was weiß ich. Meine Blicke verhängen sich an Uhren, die alle die gleiche Uhrzeit anzeigen aber aus verschiedenen Jahrzehnten stammen, sie ticken stumm vor sich hin, die Zeit verrinnt aber sie bleiben unbeteiligt. Eine Uhr müsste man sein, dann würde man sich nicht über das Verrinnen der Zeit sorgen, schließlich war die Dokumentation dessen die Existenzgrundlage, meine Daseinsberechtigung, der Zeit beim Vergehen zu dokumentieren, zumindest Hilfestellung zu geben, dass die Eier nicht zu hart werden, und zu hoffen, dass sie nie stehen bleibe, dann wäre ich arbeitslos – auf einen Schlag.IMG_20181104_163738_482

Ja, was tu ich, wenn die Zeit stehen bliebe? Hätte ich dann mehr Zeit um über mein, wie schlimmer Spliss sich in alle Richtungen verzweigendes, Leben zu grübeln, die Karte an gegangenen Wegen neu oder anders zu gehen? Würde ich gar soweit zurückreisen und mein Leben umkrempeln? Wollte ich wer anders als ich sein? Wer das wohl wäre? Was passiert dann mit mir? Mit diesem Konstrukt, das mich so viele Tränen und Kratzer gekostet hat? Würde das jemand anders bekommen? Wie würde sie wohl damit umgehen, ich zu sein? Wäre es für jeden anderen nicht zu viel des Ich-seins? Des ständigen sich in Relation zur Welt setzen? Möglichst nicht Einssein wollen mit der Masse, aber im gleichen Atemzug ständig von der Müdigkeit gekrampft zu sein auf ihre Andersartigkeit angesprochen zu werden? Eine totale Diskrepanz, wenn ich ehrlich bin?

Nun, die Zeit vergeht. Die Nacht zieht ihren dunklen Schleier durch die Gassen und wird nur von den paaren Laternen illumiert. Sie weht wie ein leichter Vorhang an einem offenen Fenster. Hinter ihnen warmes Licht und der Duft von frisch gezupften Kräutern und warmer Butter.

Ich erinnere mich, wie ich Milch zum Überkochen gebracht habe, damit mich der süße Geruch zurückbegleitet in eine kleine Küche, mein Bruder und ich in unseren Minnie-/Mickey- Mouse Pullovern und die Eltern in vertauschten Rollen: Vater am Herd, Mutter am Tisch. Es war ein Tag im Freizeitpark, einzigartig, für die Familienanalen. Nie wiederholt.

Zu Hause öffne ich eine Flasche Wein, setze mich an den Esstisch und betrachte die letzte Blüte meiner kleinen Orchidee während ich das Weinglas drehe (und nur drauf warte einen Tropfen zu verschütten). „Ignorieren Sie die Orchidee, “riet mir ein Patient, „dann wird sie am besten, ist eine Diva, wissen Sie!“ Ich tat damals wie mir geheißen, acht Monate später trug sie noch immer eine Blüte und neue Knospen kamen nach. War das wohl das Geheimnis zum Leben? Zu ignorieren, weil es einen Reiz gibt sich bemerkbar zu machen, zu strotzen und sich mit allen Mitteln aufzulehnen, um ja seinen Willen zu kriegen und die maximale Aufmerksamkeit? Ich bewundere meine Orchidee, alle 10 Tage bekam sie einen Schluck Wasser, Schatten und Licht zu gleichen Maßen. Ich stutzte sie, wenn ich daran dachte, nicht ganz sicher, ob das, was ich tat, nicht kontraproduktiv war. Aber sie genoss es. Also ignorierte ich sie weiter. Ich würde ihr bei Zeiten vielleicht eine zweite Orchidee zum gemeinsam ignoriert werden an die Seite stellen. Zu zweit ist doch immer alles besser, nicht wahr?

Apropos Uhr, meine Standuhr stand bei 10 vor 12 still. Besser gesagt, ging mir das laute Ticken so auf den Nerv, dass ich die Batterien herausnahm. Das gleiche passierte auch übrigens mit meiner inneren Uhr: kein Ticken, keine Panik. Einfach Batterien raus.

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(Anmerkung der Redaktion: Orchidee ist gestorben und wurde ersetzt, das Ignorieren klappt jetzt noch besser- Übung macht den Meister)

Wer fühlt sich manchmal nicht entgleist?

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